Freitag, 19. Juli 2013

Die erste Begegnung

Oft erkenne ich das Potential der Gegenwart erst in der Vergangenheit. Darum möchte ich mit meiner Liebeserklärung an das Schicksal einen Rückblick riskieren.


Vor unserem ersten Treffen war ich so nervös. Mir schossen tausend Gedanken durch den Kopf. War es richtig hier zu sein? Würden wir zusammenpassen? Werde ich dich lieben? Wirst du mich lieben?

Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie lange es gedauert hat, bis ich zum ersten Mal zu dir durfte. Freude, Angst, Neugier und Unsicherheit ließen mich nicht ruhig sitzen. Ungefähr 50 Mal nippte ich an einem Glas Wasser, ohne wirklich etwas zu trinken. Nachdem mir die Zeit bis zu unserem ersten Sehen so unendlich lang erschien und ich das Gefühl hatte, dass sich der Sekundenzeiger nur aller zehn Atemzüge bewegte, sah ich mich den Flur entlanglaufen. Obwohl mein gesamter Körper vor Aufregung nur Wackelpudding zu sein schien, setzte ich einen Fuß vor den anderen. Ein Lächeln hüpfte über mein Gesicht. Ich wollte mir nicht anmerken lassen, dass die Gefühle in meinem Bauch dem Inneren einer Waschmaschinentrommel glichen. Also täuschte ich entschieden Gelassenheit vor. Und dann stand ich plötzlich in der Tür.


Mein Herz setzte einen Schlag aus, als ich den hellen Raum betrat. Du warst nur wenige Schritte entfernt und hattest mich in diesem Moment noch gar nicht bemerkt. Dein kleiner Körper war umgeben von orangen Gitterstäben. Am Kopfende deines Bettes lag ein Knäuel aus Kabeln und Schläuchen. Sie halfen dir beim Atmen, versorgten dich mit Nahrung und Medizin. Monitore und jede Menge Gerätschaften standen um dein Bett als würden sie über deinen Schlaf wachen. All das nahm ich bei unserer ersten Begegnung nur ganz beiläufig wahr, denn ich hatte nur Augen für dich. Langsam schob ich meine Hand durch die Gitterstäbe und legte sie auf deinen Arm. Er fühlte sich unglaublich zart und weich an. Für den Bruchteil einer Sekunde flammte unbändiges Mitleid in mir auf. Noch im selben Augenblick ärgerte ich mich über dieses Gefühl, denn so wollte ich dir nicht gegenübertreten.

Ganz leise sprach ich dich an und stellte mich vor. Dann hast du deine müden Augen geöffnet und mir damit mehr gesagt als es mit Worten je möglich gewesen wäre. Dein Blick verriet mir, wie viel Kraft dich der Überlebenskampf gekostet hatte. Doch gleichzeitig konnte ich deine Stärke und deinen Willen sehen. Du hast um dein Leben gekämpft, ohne zu wissen, was auf dich wartet. Ohne zu wissen, dass jemand auf dich wartet. Und ohne das Gefühl gewollt zu sein. Aber ich will dir etwas sagen: Ich habe auf dich gewartet und ich werde dich für den Rest meines Lebens lieben. Selbst wenn die Sterne vom Himmel fallen, der Regenbogen seine Farben verliert und der Rhythmus der Zeit verstummt, werde ich für dich da sein und dir beweisen, dass es sich gelohnt hat, um dieses Leben zu kämpfen. ♥



Nachtrag:
2010 haben mein Mann und ich unseren Adoptivsohn zum ersten Mal gesehen. Nach seiner Geburt und mehreren Reanimationen, riss seine Lunge mehrfach. Das künstliche Koma, eine Herz-Lungen-Maschine und sein starker Wille retteten ihm das Leben. Heute ist er ein gesundes, kleines, süßes Monster und stellt täglich unser Leben auf den Kopf.
fff

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