Mittwoch, 14. August 2013

Nachruf John Doe

John Doe - so werden in Krankenhäusern häufig männliche Personen genannt, deren Identität nicht festgestellt werden kann. Letzte Woche kreuzte mein Weg den von John Doe.



Mein Mann und mein Sohn brachten mich mit dem Auto zur Arbeit. Normalerweise sind wir durch den frühmorgentlichen Kind-und-Kegel-Wahnsinn immer zu spät dran. An diesem Tag waren wir aber zehn Minuten eher als sonst unterwegs.
Im Vorbeifahren sah ich wie ein Mann vom Fahrrad stürzte und machte meinen Mann darauf aufmerksam. Bei der nächsten Gelegenheit wendeten wir und fuhren zurück. Als wir bei dem Unbekannten ankamen war er nicht ansprechbar, verkrampft und hatte Schwierigkeiten zu atmen. Ich war so unendlich dankbar, dass ich nicht alleine war. Während ich den Rettungsdienst rief, versuchten mein Mann und ein weiterer Helfer den Mitte 50jährigen wiederzubeleben, denn inzwischen erlitt er einen Atemstillstand. Kurze Zeit später schnappte er nach Luft, war aber weiterhin nicht ansprechbar. Stabile Seitenlage und da sein - mehr konnten  wir in den folgenden Minuten nicht tun. Nach einer gefühlten Ewigkeit traf der Rettungsdienst ein und brachte den Unbekannten ins nächstgelegene Krankenhaus.


Wir blieben zurück und warteten darauf, sein Fahrrad der Polizei übergeben zu können. Es verging fast eine Stunde und wir entschieden uns im Polizei-Revier nachzufragen, wann wir mit einem Streifenwagen rechnen konnten. Antwort: in zwei bis drei Stunden. Da wir nicht so lange warten konnten/ wollten, gaben wir das Fahrrad beim gegenüberliegenden Blumenladen ab und verließen den Unglücksort.

Weil mir das Erlebte nicht aus dem Kopf ging, versuchte ich im Krankenhaus in Erfahrung zu bringen, wie es dem Mann ging. Leider ohne Erfolg.
Einige Tage später erhielt ich einen Anruf von der Kriminalpolizei. Meine Telefonnummer konnte über das Protokoll in der Notrufzentrale ermittelt werden und ich erfuhr, dass der Mann nicht überlebt hatte. Er starb als John Doe. Seine Frau meldete ihn als vermisst und seine Identität konnte erst nach seinem Tod geklärt werden.

In den frühen Morgenstunden, noch am selben Tag, kam ein Baby während einer Zugfahrt ganz in der Nähe zur Welt. Ich kann von mir selbst nicht unbedingt behaupten, ein sehr gläubiger oder spiritueller Mensch zu sein. Aber ich glaube an ein Gleichgewicht in der Welt, an die Fügung und den Sinn unseres Daseins. Mir gefällt die Vorstellung, dass für jedes erloschene Leben ein neues entflammt. Und ich hoffe, dass John Doe ein glückliches Leben geführt hat, dass seine Freunde und Verwandten, ihm die Fehler, die jeder im Laufe der Zeit begeht, vergeben und stattdessen viele Gründe finden, ihn zu vermissen.

Vergessen werde ich diese Begegnung sicherlich nie und einmal mehr schäme ich mich dafür, alles Gute in meinem Leben als so selbstverständlich zu sehen. In Zukunft will ich mehr auf die wirklich wichtigen Dinge achten: Mein Sohn, der 6:00 Uhr morgens in unser Bett krabbelt, sein Mond-Gesicht gegen meine Nase presst und süßer als eine Buttercreme-Torte fragt: "Mama, können wir jetzt bitte frühstücken?". Mein Mann, der mich zum Lachen bringt, weil er mir erklärt, dass es als Naturkatastrophe gilt, wenn er mich aus dem Auto schuppsen und ich einen Berg runterrollen würde (eine ausführlich Erklärung folgt ^^). Die Freundin, mit der ich wochenlang keinen Kontakt hatte und die trotzdem spontan 400 Kilometer fährt, um mich zu sehen. Meine Familie, die nie müde wird, mich in allem, was ich tue zu unterstützen. Die Kollegen, die es schaffen, den Alltagsstress verfliegen zu lassen. Und nicht zu vergessen all die vielen anderen, kleinen großen Dinge und Beziehungen, die mein Leben ausfüllen und für die ich so dankbar bin.

Selbst wenn es mir vielleicht nicht gelingt, an jedem Tag etwas Positives zu finden und ich viel zu oft einen ganzen Fuhrpark vor Wut zertrümmern möchte, will ich es versuchen. Vielleicht auch ein bisschen, um John Doe eine Freude zu machen...


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